Kunst

„Nebenan“: Kunstprojekt – Beschäftigung mit Euthanasie am Eichberg bei Kiedrich



Wie? Wie können diese Ärzte und Krankenschwestern die Morde mit ihrem Gewissen vereinbaren? Waren es Ermordungen? War es „Asylierung“? War es eine Befreiung? Eine Erlösung? Sind behinderte Kinder bildungsunfähig? Sind normale Kinder bildungsunfähig? Sind normale Kinder gesund? Stören normale Kinder? Was sind normale Kinder? Was bedeutet Willkür? Braucht man Motive zum Töten? Wie kann man einen Menschen töten? Kann man einen Tod nutzen? Kann man einen Mord nutzen? Bringt ein Mord eine Lösung? Ein Ergebnis? Was bedeutet es, jemanden zu opfern? Was bedeutet in diesem Zusammenhang ein Zweck? Gibt es böse Menschen? Gibt es gute Menschen?

Gedicht eines Schülers: 
Anders 
Wie sie sie ansehen 
Wie Blicke nach Hilfe flehen 
Anders 
Wie Kinderlachen durch Gänge hallt 
Wie Hass und Brutalität nur innen wallt 
Anders 
Wie Eltern ihre Kinder ins Ungewisse entlassen 
Wie Ärzte ihren Auftrag nicht mehr fassen 
Anders 
Wie Krankheit zur Strafe ausartet 
Wie todsicher ihr Schicksal auf sie wartet 
Anders 
Und doch geschehen 
Und niemand hat es gesehen 
Krank 

Beitrag in Form eines fiktiven Tagebucheintrags:

19. März 1941,

Liebes Tagebuch,

ich bin ganz durcheinander. Wir haben heute Mittag unsere kleine Helene in diese Anstalt gebracht. Es hat uns einige Nerven gekostet diesen Schritt zu gehen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen wie es ihr dort in der Fremde geht, ohne jemanden den sie kennt. Doch hier zu Hause war sie so eine große Belastung: Die aufwändige Pflege und der große finanzielle Aufwand haben unsere ganze Familiensituation durcheinander gebracht. Trotzdem fühle ich mich unwohl bei dem Gedanken sie einfach weggegeben zu haben.

23. Mai 1941

Heute kam eine Nachricht an. Unsere Helene hatte eine Lungenentzündung.
Sie ist daran gestorben, sie lebt nicht mehr, sie ist tot…
Ich weiß nicht, was wir damals getan haben. Warum haben wir sie nur fortgebracht, das arme Kind konnte doch nichts dafür?!

09. Juni 1941

Ich kann nicht vergessen, ich denke immer noch an Helene.
Außerdem habe ich von anderen Eltern gehört, deren Kinder ebenfalls in dieser „Heil“-Anstalt gestorben sind.
Hier zu Hause ging es ihr doch ganz gut, sie war nicht öfter krank als ihre zwei Brüder auch!
Ich komme ins Zweifeln. Was passiert da eigentlich?



Ein fiktiver Brief:

Liebe Mutti, 10. Januar 1945

ich leide immer noch unter schrecklich schmerzhaften Krämpfen, obwohl ich doch jetzt hier in der Klinik bin. Die Krankenpflegerin hat mir aber gesagt, dass es bald besser werden würde. Zu meiner Entspannung und zum Zeitvertreib habe ich begonnen, das Nähen zu erlernen. Außerdem gebe ich mir die größte Mühe, mich gesittet zu betragen und den Anweisungen der Schwestern zu folgen. Soweit ist der Aufenthalt hier auszuhalten, doch nichtsdestotrotz vermisse ich dich sehr, Mutti. Das Traurige ist auch, dass gestern ganz plötzlich ein Mädchen gestorben ist, mit dem ich mich gerade ein wenig angefreundet hatte. Sie hatte auch Nähen gelernt. Jetzt ist sie weg.
Du bist doch wohlauf?

Liebste Grüße, deine Liselotte


Projektbericht

Nach der allgemeinen Einführung zum diesjährigen Nono-Projekt wurde dem Kunstkurs (12. Jahrgangsstufe) das Thema und die möglichen Inhalte der Performance vorgestellt, verbunden mit der Frage, ob die Lerngruppe insgesamt sich mit solcher Problematik und einer gestalterischen Umsetzung in der Unterrichtszeit beschäftigen möchte, oder sich eher ein kleinere Arbeitsgruppe bereitfindet, im Rahmen einer befristeten AG an dem Projekt zu arbeiten. Der ganze Kurs erklärte sich trotz aller Betroffenheit und Entsetzens über die Kindermorde der Nazis in psychiatrischen Krankenhäusern bereit, die Performance „Nebenan“ auf die Beine zu stellen.

„Nebenan“ verweist auf die Nachbarschaft unserer Schule zur Landesheilanstalt Eichberg bei Eltville (heute: „Zentrum für Soziale Psychiatrie Rheinblick“), in der während der NS-Zeit eine Kinderfachabteilung eingerichtet worden war. Hier wurden 200 Kinder und Jugendliche gezielt durch Spritzen und Tabletten getötet. Die Kursteilnehmer erhielten zur Recherche einen längeren Aufsatz (Die „Kinderfachabteilung“ der Landesheilanstalt Eichberg 1941 bis 1945, erschienen in: „Wissen und Irren, Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg“, Eigenverlag des LWV Hessen, Kassel 1999) verbunden mit dem Auftrag, auf die aus dem Aufsatz gewonnenen Informationen in einem eigenen, von ihnen verfassten Text zu verarbeiten, darauf zu reagieren. Ein Kursteilnehmer übernahm die Aufgabe, im Landeshauptarchiv in Wiesbaden Bilder aus einem Fotoalbum einzusehen, die ein Pfleger für seinen Oberarzt zum Weihnachtsfest 1944 zusammengestellt hatte. Er hatte Fotografien von lebenden Kindern aus dieser Abteilung solche ihrer obduzierten Gehirne gegenübergestellt. Das Hauptarchiv stellte eine Reihe dieser Bilder in digitaler Form für die Performance zur Verfügung.
Die von den Schülerinnen und Schülern produzierten Texte reagierten auf sehr unterschiedliche Weise auf das Quellenmaterial. Sie versetzten sich in unterschiedliche Perspektiven, schrieben Gedichte, Tagebucheintragungen, Briefe und auch eine Kritik am Nono-Projekt selbst.

Im nächsten Schritt ging es um die Inszenierung der Performance. Als Material standen die Fotografien zur Verfügung, Fließgeräusche von durch die Aorta gepumptem Blut und die Texte. In Kleigruppen wurden Inszenierungsvorschläge entwickelt, diskutiert und schließlich ein Entwurf ausgewählt. Es folgten Sprech- und Bühnenproben und die Koordinierung mit den eingesetzten Medien.
Die Performance begann mit einer knappen Information zur Kinderfachabteilung und einer fiktiven Weihnachtsgrußkarte jenes Pflegers, der seinem Vorgesetzten das o. a. Fotoalbum geschenkt hatte. Die folgenden Einzelbilder der lebenden Kinder waren mit dem pulsierenden Geräusch von fließendem Blut unterlegt. Das Geräusch brach abrupt ab. Ein Bild eines obduzierten Gehirns folgte. Ein von den Schülern/innen geschriebener Text wurde vorgelesen. Es folgte die nächste Fotografie eines lebenden Kindes …Den Schluss der Performance bildete eine persönliche, kritische Stellungnahme zum Nono-Projekt, aus dem Publikum vorgetragen.
Die Reaktionen auf die Performance anlässlich der Nono-Abschlussveranstaltung waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von Beklemmung über „starker Tobak“ bis hin zu „Missbrauch von Medien“.

Das Projekt „Nebenan“ verfolgte zu allererst das Ziel, über Vorgänge in Psychiatrien während des Dritten Reiches zu informieren. Die Performance verfolgte die gleiche Intention, bemühte sich aber auch diese für manche neue Information aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu reflektieren und so inszenatorisch aufzubereiten, dass sie zum lange nachwirkenden Schockerlebnis werden konnte.

Ulrich Deutschle


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